Mittwoch, 20. Februar 2019
Digitale Kühe oder: warum eigentlich digitale Bildung
Wir begegnen einem Schreckgespenst der digitalen Bildung, pflügen den Nährboden für das Unbehagen gegenüber der Digitalisierung von Bildung um und beginnen endlich, den Blick auf die eigentliche Frage beim digitalen Lernen zu richten.
Digitalisierung verändert unser Leben. Sie hat dies bereits getan und wird es weiterhin tun. Wie bei anderen Veränderungen löst das auch Unbehagen aus. Kinder wachsen heute in einer Welt auf, die sich von der ihrer Eltern in vielen Hinsichten unterscheidet. Die Beeinflussbarkeit dieser Entwicklung scheint gering.
Beim schulischen Lernen der Kinder steht die Digitalisierung eher am Anfang. Zu Recht, denn Kinder sind kein Experimentierfeld, an denen man neue Möglichkeiten ausprobieren sollte. Und zu Unrecht, denn Kinder sind der unverzichtbare Schatz einer jeden Gesellschaft, dem man neue Möglichkeiten nicht vorenthalten darf.
Zwei Kritiker der digitalen Bildung illustrieren das Unbehagen bezüglich der Digitalisierung mit einer Anekdote. Lassen Sie sich ruhig einen Moment ein auf dieses Schreckgespenst der digitalen Bildung, wie man es nennen könnte. Sie werden das Gruseln genauso schnell wieder verlernen!
- "Die Eigentümerin eines Ferienhäuschens erzählt, wie sie in dem abgedunkelten Haus eine Mutter und ihren kleinen Sohn antraf. Beide saßen vor einem Laptop - und die Frau erklärte ihm mit YouTube-Videos, was eine Kuh ist. Und das, obwohl die nicht-virtuellen Kühe rund um das Ferienhaus auf der Weide standen – und ab und zu ein kräftiges »Muuuuh« zu hören war." (Aus: Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen. G. Lembke / I. Leipner. 2. Auflage. München 2016, S. 88)
Diese Anekdote wird uns noch sehr hilfreich sein und zwar bei der Klärung eines Mißverständnisses, das ein wichtiger Nährboden für das Unbehagen gegenüber der digitalen Bildung ist. Dieses Mißverständnis ist genau genommen ein ungeklärtes Verständnis davon, wie sich Bildung und Erfahrung zueinander verhalten. Wir wollen noch einen Moment bei den Kühen verweilen, bevor wir gleich zur Entgruselung schreiten:
- Durch eine kurze Beschäftigung mit Kühen weiß ich, dass eine Kuh täglich bis zu zehn Päckchen Butter und zweieinhalb Packungen Zucker erzeugt, indem sie eigentlich unverdauliches Gras verwertet. Die Milchleistung einer Kuh beträgt täglich bis zu 50 kg, was wohlgemerkt nicht unbedingt in Litern angegeben wird. Kühe müssen meist zweimal am Tag von der Last ihrer vielen Milch befreit werden. Daher würde kaum eine Kuh einen längeren Stromausfall überleben, weil das Melken händisch ohne Maschine gar nicht zu schaffen ist. Und dann ist da noch die alte Geschichte von Zeus, wie sie von Ovid vor über 2000 Jahren niedergeschrieben wurde. Der große Zeus musste seine geliebte Io in eine Kuh verwandeln, um diese so vor der Eifersucht seiner Gattin auf einer Weide zu verstecken. Welch ein verliebter Halunke!
Was ich über Kühe weiß, habe ich mittels digitaler Kühe im Internet erfahren, des weiteren durch Nachlesen im Kinder-Lexikon (mit veralteten Angaben zur Milchleistung, die heute wohl nicht einmal Bio-Bauern akzeptieren würden), durch Erzählungen eines Freundes oder durch Mithören bei einem Hörspiel. Einiges habe ich vorher nicht gewusst, bei anderem weiß ich gar nicht, woher ich es weiß. In einem Ferienhaus hätte mir - wie jener Mutter wohl auch - nur das erste zur Verfügung gestanden. Nicht-Wissen haben wir alle genug. In keinem einzigen Fall weiß ich einen der angeführten Punkte, weil ich am Weidezaun auf eine nicht-virtuelle Kuh geschaut habe.
Vielleicht hat jener Junge im abgedunkelten Ferienhaus zusammen mit seiner Mutter Ähnliches gelernt. Wenn er später an der nicht-virtuellen Weide vorbeiläuft, wieder in die Sonne blinzelt, schaut dort ein gebildeter Mensch auf die Kuh. Denn er sieht mehr, als eigentlich zu sehen ist. Vielleicht sieht er den Wiederkäuer. Vielleicht die glückliche Kuh, weil er das YouTube-Video von der Hochleistungskuh gesehen hat. Vielleicht sieht seine Mutter die Schönheit der Kuh, weil sie sich vorstellt, wie Zeus an seine Io denkt und sehnsuchtsvoll vom Olymp auf die Weide herabschaut.
Zurück aus den Ferien kann der Junge dann eine ganze Menge von Kühen erzählen, wesentlich mehr als das, was zu sehen ist. Seine Begegnung mit einer wirklichen Kuh wurde durch die digitale Bildung interessanter als es der bloße Blick über den Weidezaun hergibt. Sie wurde erweitert und aufgeschlüsselt. Vielleicht wählt er genau deswegen die Kuh als Thema seines Ferienberichts und kann dabei seine ganz eigene Erfahrung einbringen, dass eine Kuh auf der Weide ein viel kleineres Euter hat als die Kühe im Milchbetrieb, die man bei Youtube sehen kann. Nichts hat ihm die digitale Bildung genommen. Die Mutter kann sehr stolz sein.
Erfahrungen sind immer durchtränkt mit Vorwissen, mit Beschreibungen, Veranschaulichungen, Erzählungen. Bildung welchen Formats auch immer kann Erfahrungen nicht nehmen. Würden Erfahrungen nicht derart überformt werden, blieben sie vergleichsweise leer. Die Würgebewegung vor dem Wiederkauen sieht nur derjenige, der weiß, was da eigentlich passiert. Eine Kuh beginnt derjenige zu bewundern, der um ihre Leistung bei der Milchproduktion weiß. Und nur der gewinnt Mitgefühl mit wirklichen Kühen zu haben, der um das Übermaß ihrer Milchleistung weiß.
Keine Angst vor digitalen Kühen! Wenn man versteht, dass man durch Digitalisierung von Bildung keinen Verlust von Erfahrungen befürchten muss, dass Bildung ganz im Gegensatz die Funktion hat, Erfahrungen aufzuschließen und die erfahrbare Wirklichkeit begreifbarer zu machen, dann verschwindet auch ein wichtiger Nährboden für das Unbehagen gegenüber der digitalen Bildung. Denn dann verschwindet der scheinbar große Unterschied zwischen digitalen und analogen Bildungskühen. Beides sind Varianten eines Lerninhalts. Es hängt dann nur noch von ihrer jeweiligen Qualität ab, ob diese die Augen zu öffnen vermögen und der Lernende beim Anblick einer wirklichen Kuh tatsächlich mehr sieht, als eigentlich zu sehen ist.
An die Stelle der Angst vor digitaler Bildung hat die Frage nach der Qualität der digitalen Inhalte zu treten. Mit MatheLab habe ich mir das Ziel gesetzt, dass diese Qualitätsfrage für den Bereich Mathematik an der Grundschule zukünftig immer öfter positiv beantwortet wird. Um dazu beizutragen, dass Kinder so gut sehend werden (rechnend, nachdenkend, verstehend) wie möglich!